Pilot I
Varianz und Retextualisierung in Musik und Text des Liebesliedes
Die Studie ist ein interdisziplinäres Teilprojekt, in dem Germanistik und Musikwissenschaft an einer gemeinsamen Fragestellung eng zusammenarbeiten. Im Zentrum steht das Verhältnis von Text und Musik, ihre Variantenbildungen und historische sowie moderne Rezeption dieser Komponenten. Jede Arbeit an Lied-Intavolierungen führt zu folgenden Überlegungen: Wie wurde der Text der vokalen Vorlage in der instrumentalen Version verstanden, gehört oder mitgedacht wurde? Welche semantische oder strukturelle Komponente brachte der Text in die intavolierte Musik ein? Welche Text- und Vokalmusik-Quellen und welche Praktiken waren den Schreibern tatsächlich verfügbar und mit welchen setzten sie sich auseinander? Wie sollte das parallele Lesen von Text und Musik und der Dialog zwischen Tabulatur- und Vokalschrift dem modernenen Rezipienten schließlich ermöglicht bzw. gezeigt werden?
Im Mittelpunkt stehen zunächst die Liebeslieder aus dem Königssteiner Liederbuch (D-B, Ms.germ.qu. 719; 1470-1473) als Beispiele für “collective production” und “open textual types” (Kern 2005). Mehrere Lieder aus diesem Buch wurden im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts in mehreren Varianten überliefert (Das Schedelsche Liederbuch 1459-1467, Liederbuch der Clara Hätzlerin 1470-1471, Rostocker Liederbuch 1487, Glogauer Liederbuch um 1480, einzelne Flugblätter oder Publikationen, wie Kalender oder Stammbücher des 16. Jahrhunderts; Sappler 1970, 4f.; Petzsch 1965). Die Variantenanalyse, die unsere Edition anbietet, ermöglicht es zu untersuchen, wie und ob die Texte aufeinander “reagieren” und wie sich die Variantenbildung im Laufe der Zeit verändert hat. Weiters wird folgenden Fragen nachgegangen: Welche sozialen Kontexte lassen sich anhand von semantischen, auch metaphorischen, Bezügen im Text und strukturellen Zusammenhängen von Varianten feststellen? Was bedeutet “produktive Rezeption” für das Königssteiner Liederbuch (Kropik 2018)? Wie gehen die untrennbar miteinander verbundenen Komponenten Musik und Literatur im Modus des “text-event” aufeinander ein (Chartier 2000, 5)? Welche Varianten von Melodien konnten unterlegt sein? Das Lied Nr. 82 wurde beispielswiese durch die Hinweise auf das “Elßlin”-Lied in Glogauer (1480) und Ambraser Liederbuch (1582), in den Notendrucken von Ott 1534 und Forster 1539 und in mehreren Tabulaturen als Intavolierungen belegt. Wie wurden Musik und Text in späteren Notendrucken und insbesondere in den Intavolierungen (um)interpretiert? Von der Untersuchung erwarten wir weiterführende Ergebnisse sowohl für Musikwissenschaft und Aufführungspraxis, als auch für Germanistik und Musikinformatik.